I Suoni delle Dolomiti: ein Manifest
„Die Dolomiten. Sind es Steine oder sind es Wolken? Sind sie wahr oder ein Traum?“ Dino Buzzati
Diese Frage stellte sich der Schriftsteller Buzzati, ein großer Liebhaber und profunder Kenner der Dolomiten. Die Rhetorik des Staunens und der Verzauberung über die Wunder der Natur – rasch aufsteigender Nebel, der die Bergrücken verdeckt, die plötzlich hervorkommende Sonne, die sie in flammendes Licht taucht und korallenrot färbt.
Um dieses In-Staunen-Versetzen zu zelebrieren, wurde vor mittlerweile 29 Jahren im Trentino „I Suoni dei Dolomiti“ ins Leben gerufen. Wie es gelungene Innovationen so an sich haben, ist daraus eine echte Tradition geworden. Begründet und fortgeführt vom „Volk der Klänge“, bestehend aus Gästen, Einheimischen, Künstlerinnen und Künstlern, sowie dem lebendigen Gefüge dieser Gebirgswelt. Ihre Stimmen hallen in der tiefen Zeit der Felsen wider. So tief wie das Meer, das diese Berge hervorgebracht hat. Und deren Geologie und Szenarien die Unesco dazu bewogen haben, diese Landschaft von einzigartiger Schönheit zum Weltnaturerbe zu erklären. Kein Wunder also, dass ein derartiger Schauplatz den hier stattfindenden Veranstaltungen eine unverwechselbare Identität verleiht.
Hier oben, wo die Musik der Stille wie nirgends sonst wahrnehmbar ist, versetzen „I Suoni dei Dolomiti“ Worte der Kunst und das Schönste der musikalischen Schöpfung ins Zwiegespräch mit der Natur der Bergwelt. Hier oben, wo offenkundig ist, dass Stille weder gleichbedeutend mit Leere noch das Gegenteil von Lärm ist, vereinen sich Harmonien mit Sonnenaufgängen und Landschaften, und erschaffen unendliche Resonanzen zwischen Schaffenden, Zuhörenden und der Natur. Klänge, die in Dialog treten mit den Rufen der Tiere und dem Echo der Wälder, Felsen und Gipfel, und ein Vielfaches an Schwingungen entfachen, die kein geschlossener Ort je hervorbringen oder nachahmen kann.
In einem Naturtheater ohne Grenzen schallt die Musik so weit das Auge reicht, und darüber hinaus. Nicht nur wird der Bühnenraum von den Aufführenden und dem Publikum geteilt, wie in den Urformen des Theaters, sondern sogar der Weg dorthin. Zuhören als ganzheitliche und wechselseitige Erfahrung – dennoch bewahrt der Freiraum seine Intimität.
Um „I Suoni dei Dolomiti“ besser zu verstehen, sollte man auch die Umrisse betrachten, und abgrenzen zu dem, was es nicht ist – so, wie wenn man versucht, die Felsen vom Nebel zu unterscheiden und ihre materielle Realität auszumachen, jenseits des Traums. „I Suoni dei Dolomiti“ sind nicht einfach „zugänglich“: den Ort der Darbietung gilt es zu bezwingen, mit gleichmäßigen, bedachten Schritten. Aber eben diese Wanderung, diese gemeinschaftliche Anstrengung vervielfacht die Genugtuung des Enderfolgs, und intensiviert das Erlebnis – das unvergesslich wird, unauslöschlich in Erinnerungen und Erzählungen.
„I Suoni dei Dolomiti“ sind immer wieder einzigartig: auch wenn es Konstanten bei den Veranstaltungen gibt, und sich ein solider roter Faden durch die langjährigen Aktivitäten des Festivals zieht, das sich unermüdlich zu innovieren verstanden hat – das Dabeisein, das Teilnehmen ist ein Zusammenspiel von Hier und Jetzt, das aus der einmaligen Verbindung zwischen Raum, Natur, Kunst und Zuhören heraus entsteht. Jeder Bericht kann nicht mehr als ein blasser Abklatsch der realen Erfahrung sein, und nicht einmal eine technische Anwendung erleichtert das Unterfangen: „I Suoni dei Dolomiti“ sind in ihrer Totalität nicht reproduzierbar.
Auch deshalb sieht es keine passive Teilnahme vor, sondern bewusste Entscheidung, Wanderung bzw. regelrechte Reise, persönlichen Einsatz. Eine Erfahrung, aus der man gewandelt hervorgeht, verändert vom Weg hinauf, der Fülle der Stille der Bergwelt, den landschaftlichen Eindrücken, der Musik und den Worten.
Die Wanderung ist zweifellos ein maßgeblicher und unumgänglicher Bestandteil der Erfahrung: zwar wird, um die Events zugänglicher zu machen, die Annäherung unter Verringerung aller Schwierigkeiten gewährleistet, aber der Weg und die Erwartung gehören dazu. Von Anfang an ist ein Gemeinschaftsgeist zu spüren, sobald alle ihre Rucksäcke oder Instrumente schultern und man sich mit Wegbegleitern und dem Musiker- und Mitarbeiterteam auf den Weg macht. Jeder Schritt ist Anregung zum Denken, Fühlen, und Austausch, und es kommt der Moment, an dem die Erfahrung des Gehens nahtlos verschmilzt mit der ästhetischen Erfahrung: das ist der Kernpunkt des Festivals, bei dem die Dolomiten nicht die Kulisse, sondern die Protagonisten sind.
Größtenteils als ein Geschenk der Natur anzusehen, stehen die kostenlosen Veranstaltungen von „I Suoni dei Dolomiti“ allen offen, die daran teilhaben möchten, und bereit sind, einen stillschweigenden Pakt des Respekts einzugehen. Hier liegt die Einzigartigkeit, der absolute Wert, die Krönung der Teilnahme. „I Suoni dei Dolomiti“ erfüllen mit Leichtigkeit den Raum; die Teilnehmenden fühlen sich mit einem einzigartigen Geschenk dieser Umgebung bedacht, die Darbietenden geben eine Vorstellung, die alles andere als einfach ist, aber gerade deswegen über die Töne und Klänge hinaus einzigartige, unvergessliche Augenblicke herauskristallisiert.
Jeder Gast, in welcher Rolle er auch anwesend ist, ist zur Achtung vor dem Ort, der Geschichte, der Zeit, der Musik, der Natur und den Mitmenschen angehalten. Und vor der eigenen Verwandlung.