Mein Sauerteig
Eine bestimmte Vorstellung von Freiheit
Brot?
„Brot ist Zuhause, Heimat. Brot ist das Urnahrungsmittel der Menschen. Wir alle lieben unser tägliches Brot. In jeder Religion gibt es ein Ritual, das mit Brot verbunden ist. Der Anbau von Getreide hat uns von Nomaden zu Sesshaften gemacht. Unsere Beziehung zum Getreide geht über alle späteren landwirtschaftlichen Bindungen hinaus. Sie berührt unser aller Identität. Es ist kein Zufall, dass wir während des Lockdowns nicht alle plötzlich Lasagne gemacht haben, sondern angefangen haben, Brot zu backen.“
Während wir lernen, wie man knetet, wie man Materie in den Händen spürt, die von Emotionen geformt wird, erzählt uns Vea Carpi vom Geruch des Schnees, von einem zufällig gefundenen Bauernhaus, vom Mut, die Muster der Vergangenheit abzulegen und von einem Sauerteig, der seit nunmehr 65 Jahren in den Küchen der Welt zu finden ist. Schicksale und Ziele in einem wilden Tal, in dem das Fersentalerische (italienisch: mocheno) gesprochen wird und in den Unternehmerinnen sich vernetzen und eine Zukunft aufbauen.
Der Maso – das Bauernhaus
Wir befinden uns in der Gemeinde Sant'Orsola im Fersental (Valle dei Mocheni), einem der intaktesten Kulturgebiete des Trentino. Hier lebt im Mas del Saro die aus der Toskana stammende Vea seit zwanzig Jahren mit ihrem Mann Renzo aus dem Trentino, den gemeinsamen drei Kindern Pietro, Viola und Sole und einigen Schafen. In ihrem Haus empfängt Vea an den Wochenenden Gäste zum Mittag- und Abendessen. Die Gerichte bereitet sie mit Produkten aus ihrem eigenen Garten und anderen ausgewählten Rohstoffen zu. Hauptbestandteil jeder Mahlzeit ist ihr hausgemachtes Brot, denn auf diesem Gebiet ist sie sogar über die Alpen hinaus bekannt. Sie schreibt über das Brotbacken und lehrt es in ihren Kursen im Maso. „Wir kamen ohne irgendeinen Traum hierher, ohne Plan, wir wollten einfach nur draußen in der Natur sein. Nichts weiter.“ Stattdessen ergriff das Bauernhaus langsam Besitz von Vea und veränderte buchstäblich ihr Leben. Aber gehen wir der Reihe nach vor.
Ganz gleich, ob man an einem Kurs teilnehmen oder das gastronomische Angebot probieren will, zum Maso sollte man immer zu Fuß gehen. Das Auto etwas weiter unten im Tal stehen zu lassen und diese fünfzehn Minuten durch den Wald zu laufen, stimmt Körper und Geist auf das bevorstehende Erlebnis ein.
Vea Carpi
Vea ist Anfang zwanzig, hat in Pisa gerade ihr Studium abgeschlossen und steht kurz vor der Geburt von Pietro. Renzo ist Journalist und liebt die freie Natur. Sie leben in einer Wohnung, suchen nach einem Motorrad und finden den Maso. Sie machen das Haus bewohnbar und genießen es abends und an den Wochenenden, während sie in der Stadt ihren beruflichen Verpflichtungen nachgehen und sich die Familie langsam vergrößert. Als nach Viola das dritte Kind Sole zur Welt kommt, beschließt Vea, das Tempo zu drosseln, sich ihren Kindern zu widmen und etwas über die Natur zu lernen.
Sie erinnert sich wieder an den Duft des Holzes im Haus ihrer Großeltern, die Wärme des Schnees, der die Natur schützt, und entdeckt eine neue Freiheit in ihrem Muttersein. „Das war der Moment, in dem der Maso begann, von mir Besitz zu ergreifen“. Erst der Garten, dann das Brot. Der Durchbruch kommt mit dem Sauerteig. „Manchmal sind es absolut banale Dinge, die dazu führen, dass man sich langsam ein anderes Bild von sich selbst macht.“ Vea beginnt zu verstehen, was sie wirklich gut kann und wo sie ihre Talente einsetzen sollte. Sie krempelt die Ärmel hoch und macht sich daran, etwas ganz Neues zu bewirken.
Der Sauerteig
„Ich habe eher zufällig angefangen, Brot zu backen. Eine Freundin hatte mir vor 15 Jahren von diesem Sauerteig erzählt, aber damals wussten wir nichts darüber, er hatte fast etwas Mystisches an sich. Also habe ich mir selbst welchen gemacht, um zu sehen, ob es funktioniert. Das war eine sehr langsame Lehrzeit. Anfangs war das Brot ungenießbar. Stellen Sie sich vor, ich habe angefangen, Brot mit Sauerteig zu backen, aber ich hatte zuvor selbst noch nie solches Brot gegessen!
Es hat mehr als ein Jahr oder sogar noch länger gedauert, bis ich ein Brot kosten konnte, das jemand gebacken hatte, der etwas davon verstand, denn im Trentino gab es das nicht, niemand hatte diese Art Brot. So war für mich alles Theorie, ich wusste nicht, wie das Brot aussehen und schmecken sollte. Dann endlich bekam eine Frau im Tal einen Sauerteig aus Kalabrien geschickt, einen sehr milden, sehr reifen Mutterteig, der jetzt 65 Jahre alt sein müsste…".
Das Brot
Wer zum Maso kommt, will das Brot kosten und will lernen, wie man es selber macht. Etwas über die Mehlsorten, ihre verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten und die Geduld und Sorgfalt, mit der man Sauerteig am Leben erhält, erfahren. Jeder Kurs richtet sich nach den Vorkenntnissen der Teilnehmer. Denn was wir mit unseren eigenen Händen schaffen können, hängt wirklich nur von unserer Fähigkeit ab, den Teig in unseren Händen zu spüren und dann natürlich seine Techniken und Geheimnisse zu lernen. Nach etwa drei Stunden gehen Sie mit einem Brot zum Backen und einem verzehrfertigen Brot nach Hause! Vor allem aber erhalten Sie als Geschenk etwas von dem Mutterteig, mit dem hier im Maso alles begann. Das ist ein großartiges Gefühl.
Man lernt, wie der Teig gedehnt, gefaltet und gewendet werden muss. Dass die Zeit Zeit gibt, dass auch der Geschmack ein neuer Geschmack ist, den man erkennen muss, um ihm einen Namen zu geben. Und dann könnte es sein, dass diese mythologische Geste für Sie wie für Vea der erste Schritt zur Begegnung mit einem neuen Bild von sich selbst ist, das Ihnen vielleicht sogar ein wenig ähnlicher sieht.
Was ist das Schwierigste, wenn man hier lebt, Vea?
„Je mehr Zeit vergeht, desto mehr Mühe habe ich, etwas Schwieriges zu finden…“