Ugo Bike Perini
Ein Leben im Sattel voller Emotionen
Ugo Perini lebt in Arco in demselben Haus, in dem er geboren wurde. Sein Spitzname ist Ugo Bike, wie das Geschäft, das er von 1995 bis 2006 geführt hat. Sein Leben beginnt dank eines Fahrrads.
Es ist der 16. Mai 1947. Er ist soeben zur Welt gekommen, allerdings zu früh, schon im 7. Monat. Er hat einen neunjährigen Bruder, Giancarlo, eine fünfjährige Schwester, Alda, und wartet noch damit, seinen ersten Atemzug zu tun. Sein Vater Aldo ist Halbpächter, hat aber an Radrennen mit Girardengo teilgenommen, er ist ein Sieger, ein begeisterter Sportler. An diesem Tag steigt Aldo Perini auf sein Rad und gewinnt sein wichtigstes Rennen, denn er erreicht rechtzeitig eine Hebamme, die ihm, mithilfe des heißen Wassers der Küchenhexe, nach seiner Mutter Gemma, zum zweiten Mal das Leben schenkt.
Genau 70 Jahre später vollbringt Ugo ein Unterfangen, das niemandem weder vorher noch danach gelungen ist. Am 4. Juli 2017 startet er vom Nordkap im Sattel seines Fahrrads und fährt 24 Tage später in Arco ein, nachdem er im Alleingang über 4080 km, 22.000 Höhenmeter, durch 7 Länder, mit durchschnittlich 200 km am Tag bei Regen, Wind und Schnee in einem europäischen Sommer zurückgelegt hat, der einem asiatischen Winter ähnelt.
Wer ist Ugo? Wie hat er das geschafft und warum?
Wir alle sind hier, um unseren Weg zu gehen
„Mit 7 Jahren bekam ich mein erstes Fahrrad geschenkt. Mein Vater war ein großer Radsportler, ein großartiger Bergfahrer. Das Fahrrad war das einzige Verkehrsmittel, das wir hatten. Es war unser Fahrzeug. Wenn man ein Fahrrad hatte, war man mobil. Als ich es zum ersten Mal in die Hand nahm, bin ich gegen einen Poller gefahren und mein Vater hat mich zur Seite genommen und mir gesagt, jetzt zeige ich dir, wie man das Fahrrad repariert, und dann hat er mir das Rad gerichtet.“
1965 besucht Ugo die Fausto-Coppi-Schule in Mailand, wo er die Rennpiste kennenlernt und erfährt, was Geschwindigkeit ist. Drei Jahre später endet seine Karriere wegen eines Unfalls mit Rückenverletzung. Geheilt wird sein Rücken durch Prof. Ruben Oliva, den Arzt von Maradona, der ihn vor dem Rollstuhl bewahrt, und Ugo beginnt, an Amateurrennen teilzunehmen, Amateure zu trainieren, die viele Siege einfahren, und, da er Herausforderungen liebt, zu laufen, Tennis zu spielen und Skilangläufe zu machen.
In der Zwischenzeit erlernt er das Handwerk des Landwirts, des Mechanikers, des Maurers und heiratet Clara, eine Grundschullehrerin, die ihn anspornt, sein eigenes Geschäft zu eröffnen und den Verein Polisportiva S. Giorgio zu gründen. „Wenn Clara abends spät nach dem Essen noch zu tun hatte, ging ich im Winter eineinhalb Stunden laufen.“ „Sie hatte ihre Stärke und ich hatte meine und die haben wir vereint. En dos e na val i fa en pian (Ein Berg und ein Tal ergänzen sich zu einer Ebene).“
Clara stirbt unerwartet mit 44 Jahren. Zusammen mit Aldo und Gemma kümmert sich Ugo weiter um seine beiden heranwachsenden Töchter.
„Ich hatte einen Plan für mein Leben, aber den musste ich plötzlich aufgeben. Ich habe gelernt, von Augenblick zu Augenblick zu leben. Der Augenblick ist nicht morgen, sondern heute. Die Vergangenheit ist ein Schatz, aber diesen Dingen muss man dann auch eine Bedeutung geben.“ Clara lebte in den Dingen weiter, die sie mit Ugo aufgebaut hatte und die sie in ihm zurückgelassen hatte. „Wenn man dem Negativen das Positive genommen hat, existiert es nicht mehr. Es gibt nur noch den Weg.“
Ich bastelte an der Reise von Augenblick zu Augenblick. Ich musste das Puzzle fertig bekommen…
Mit 70 Jahren war „das Geschenk, das ich mir gemacht habe, bereits von meinen Eltern und meiner Frau zusammengestellt worden. Ich war dabei, das Haus aufzuräumen, da kam mir in den Sinn, dass meine Frau zum Nordkap hätte fahren wollen. Dann kam mir in den Sinn, dass ich darüber auch mit meiner Mutter sprach. Also habe ich innegehalten und mir gesagt: Ich habe diese Fähigkeiten und Eigenschaften, die meine Eltern mir mitgegeben haben, ich bin gesund, ich mache gerne Sport, ich habe keinerlei Probleme, ich kann ein bisschen Geld investieren, ich habe einen Sponsor… Das war das Puzzle! Um es fertig zu bekommen, fehlte nur noch die Reise als letztes Puzzleteil. Im Februar habe ich begonnen zu trainieren.“
Ugo trainiert sich selbst, er kennt seinen Körper, baut Muskeln auf und stellt die Reise im Geiste minutiös zusammen. Er geht sie immer und immer wieder durch, plant jedes kleinste Detail. Er rüstet sein Auto mit zwei Batterien und einem Kühlschrank aus, bereitet die Essensrationen vor, lässt sich für alle Fälle ein mit dem seinen baugleiches Fahrrad anfertigen und findet einen Reisegefährten, Davide Pellegrini, einen jungen Physiotherapeuten aus Trento, der ihn über die gesamte Strecke mit dem Auto begleiten wird.
Ugo und Davide fahren im Auto zum Nordkap, dann schwingt sich Ugo auf‘s Rad und fährt los. Er radelt den ganzen Tag, am Abend sucht er eine Wohnung oder einen Bungalow für die Übernachtung, bereitet die Mahlzeiten zu, duscht, wäscht die Wäsche und fährt am nächsten Morgen wieder los. Davide kümmert sich um seine Muskeln, die schon zwei Stunden nach dem Ende der Fahrt auf wundersame Weise die ganze angesammelte Milchsäure absorbiert haben.
Ich wache immer noch nachts auf und frage mich, wie ich das geschafft habe
An 20 von 24 Tagen Regen und Kälte. Wenn er zu nass ist, macht Ugo an einer Raststätte Halt und zieht sich um. Die Wärme der trockenen Kleidung regeneriert seinen Körper bis zum nächsten Halt. „Wenn ich nur eine Sekunde daran gedacht hätte, aufzuhören, wäre alles umsonst gewesen. In einem schwierigen Augenblick muss man eine Lösung finden. Ich schaute nach vorn und nahm mich in Acht. Ich machte Halt, zog mich um und fühlte die Kälte nicht mehr. Ich hatte die Kälte ausgeblendet, bevor ich mich umzog, und investierte in einen anderen, positiven, Augenblick.“
Ugo fährt allein, bis auf einmal, als er von einer Gruppe von Rentieren umgeben wird, die neben ihm herlaufen. Ugo hat keine Angst, er fühlt sich beschützt, als ob er von allen Reisegefährten umgeben wäre, die ihm sein Leben und dieses Abenteuer ermöglicht haben. Bevor das Rentier, das die Gruppe anführt, Ugo verlässt, fixiert es ihn, während er weiter fährt, es hält den Lauf seiner Rudelgenossen auf und wechselt die Richtung, nachdem es sich vergewissert hat, dass Ugo sein Ziel erreichen würde.
Keine einzige Erkältung, kein einziger Unfall. Die Motivation? Das war ein absolut natürlicher Weg, eine Reise zurück durch die Zeit, das Puzzle, das auf seine Fertigstellung wartete.
Als Ugo wieder nach Hause kommt, freut er sich, seine Freunde und seine wunderbare Heimat wiederzusehen, und bevor er vom Rad absteigt, besucht er seine Lieben auf dem Friedhof, die Menschen, die ihm das Leben gegeben und es ihn gelehrt haben.
Du musst dir vorstellen, dass du nie angekommen bist
Ugo hat viele Freunde in jedem Alter. In den Schulen begegnet er vielen Jugendlichen, mit denen er nicht über das Fahrrad und auch nicht besonders viel über seine Reise spricht. Ugo spricht über Gefühle.
„Mit Kindern spreche ich nicht über Sport, sondern über die Gefühle des Lebens. Jungen Menschen nützt es nichts, zu sehen, wie einer mit dem Fahrrad eine Reise macht. Sondern sie müssen sehen, dass man sich dazu auf einen Weg begeben muss. Wir alle müssen dem Weg, den wir gehen, einen Wert geben, denn wenn wir dem Weg, den wir gehen, keinen Wert beimessen, warum sollten wir ihn dann einschlagen?“ Wir dürfen „niemals versuchen, das zu machen, was ein anderer gemacht hat. Versuche zu verstehen, zu sehen, zu hören und herauszuschälen, was dir selbst nützen könnte. Vielleicht fehlte dir in deiner Datenbank diese Information und vielleicht findest du sie dort, genau an diesem Tag.“
Es gibt jeden Tag etwas Neues zu sehen
Ugos Fahrrad hat keinen Zeitmesser, es ist nackt. Ugo fährt Rad, macht seine Runden, aber ohne die Zeit zu zählen, ohne sich anzustrengen. Weil er sich bewusst ist, dass die Landschaft, in der er sich bewegt, immer wieder neue Emotionen schenkt. Während der Fahrt zu merken, wie sich die Sonne bewegt, die Spiegelung auf dem Wasser sich ändert, wie die Bäume zu blühen beginnen, das ist es, was die Schönheit des Radfahrens ausmacht.
„In den 60er Jahren gab es einen Motorrad- und Autoboom und es schien, dass das Fahrrad am Ende wäre. Die Leute konnten nicht einmal mehr damit fahren. Heute ist das Fahrrad zu einer Option geworden. Es gibt andere Bedürfnisse. Wie beim Wandern zu Fuß. Wer machte das früher noch? Das Fahrrad ist Mittel, das dazu beiträgt, sich selbst körperlich wertzuschätzen. Und das Elektrofahrrad war eine unglaubliche Erfindung. Von einer Explosion zu sprechen, ist noch zu wenig. Aber sind wir dafür bereit? Wir fahren Fahrrad mit der Einstellung, dass unser Denken ein Selbstzweck sei. Stattdessen sollte man beim Radfahren an die anderen denken, denn dein Fahren findet ja im Zusammenhang mit der Umwelt und mit den anderen statt, die sich in deiner Nähe befinden, mit denen du den Raum teilst. Du kannst nicht weiter nur du selbst sein und weitermachen wie ein Pferd mit Scheuklappen. Du muss gleichzeitig auf dich selbst, auf die Umwelt und auf die anderen achtgeben.“
Wenn Sie in Arco vorbei kommen, fragen Sie nach Ugo Bike. Sie werden ihn finden. Vielleicht baut er gerade an seiner neuen Sporthalle oder arbeitet an der Gestaltung des Museums seiner Familie oder backt gerade einen Apfelkuchen für seine Freunde.