Castel Stenico in der Zeit des Hungers

Vom Ort der Rechtsprechung zur Sommerresidenz der Fürstbischöfe

Die perfekt erhaltene Burg Stenico erhebt sich elegant auf einer Hügelkuppe, eingebettet in das kräftige Grün der Felder und Wälder, als Hüterin und Herrscherin über ein ganzes Tal. 

Wir befinden uns an der westlichen Grenze des Trentino, im UNESCO-Biosphärenreservat "Ledroalpen und Judikarien", einem Gebiet, das reich an biologischer Vielfalt und Geschichte ist, was der engen Beziehung zwischen Mensch und Natur im Laufe der Jahrhunderte zu verdanken ist. Ein Ort, der aller Entfernung und Unzugänglichkeit zum Trotz Begehren und Bestreben der Republik Venedig war. Man muss nur durch die Räume der Burg spazieren, um ihre Spuren zu entdecken ... 

 

Burg Stenico und die Judikarien 

Man könnte meinen, dass an Orten wie diesen – ländlichen Paradiesen, in denen das Leben friedlich verläuft und von den Zyklen der Natur geprägt ist – die Anwesenheit eines Herren, der seine Gesetze auferlegt, gar nicht erforderlich ist. In der Tat haben sich die Trentiner Täler über Jahrhunderte hinweg über Regeln und Vorschriften für die Gemeinschaft, die von den Familienoberhäuptern in Versammlungen ausgelegt wurden, selbst regiert.  Der eigentliche Feudalherr war oft gar nicht oder nur selten anwesend.  

Im Fall von Stenico, das in einem weit von der Hauptstadt entfernten Gebirgstal liegt, übte der Fürstbischof die Rechtsprechung durch den Hauptmann der Judikarien aus. Die Abgaben hingegen wurden von zwei "Massaren" erhoben, die stets dem Fürstbischof unterstanden.  

Im Laufe der Jahrhunderte beherbergte die Burg Stenico Soldaten, Fürstbischöfe, Hauptmänner, politisch und juristisch vielbeschäftigte Personen, war aber auch  Sommerresidenz der Fürstbischöfe, was davon zeugt, dass das Leben hier wahrscheinlich wirklich sehr, sehr ruhig verlief. 

Burg Stenico und der Hungerturm

Burg Stenico und der Hungerturm

Bleibt die unheimliche Präsenz des Torre di Bozone innerhalb der Burg, in dem sich das Gefängnis befand. Der Ort wurde auch Hungerturm genannt, weil die zum Tode Verurteilten in einen dunklen und unzugänglichen Raum geworfen wurden, der von oben mit einem schweren Gitter verschlossen war, und dort dem Hungertod ausgeliefert waren.  
 
Bei der Besichtigung wird dieser Dualismus zwischen Ort der Macht und Kontrolle und Wohnsitz deutlich: Der ursprüngliche militärische Charakter der Burg spiegelt sich in den hohen Mauern, den unzugänglichen Fenstern und dem strengen und dunklen Erscheinungsbild des Gerichtssaals wider, in dem der Hauptmann der Judikarien seine Macht von einem Richterstuhl aus ausübte, in einer dominanten Position gegenüber den Verurteilten.  

Im Inneren der Burg hingegen wurden viele Teile ab dem 15. Jahrhundert nach und nach zu einer eleganten Residenz im Stil der Renaissance umgebaut.  

Wir finden dort  Loggien, die durch Steinsäulen aufgelockert werden, zwei- und dreiflügelige Fenster und ein "italienischeres" Aussehen. Schließlich war die Regierung stabil, ohne Angriffe von außen, und zur Zeit des Bischofs Johannes Hinderbach im ausgehenden 15. Jahrhundert. Später, im 16. Jahrhundert, während der Herrschaft von Bernhard von Cles, wurde die Burg zur Sommerresidenz der Bischöfe und mit Fresken, Sälen und Räumen für Empfänge ergänzt. 

Burg Stenico und der Hungerturm

Burg Stenico und die Rechtsprechung

Die Präsenz des strengen Bischofs Johannes Hinderbach (1418 - 1486) ist im Palazzo Vecchio, insbesondere im Puttensaal, zu erkennen. Hinderbach war deutscher Herkunft, hatte aber in Italien, in Padua, Jura studiert. Er war sehr ehrgeizig und wollte Bischof von Brixen werden, musste sich aber damit "begnügen", vom Domkapitel zum Fürstbischof von Trient gewählt zu werden. Die Rolle des Kardinals sollte ihm verwehrt bleiben. Er widmete sich voller Einsatz seiner Aufgabe, war kultiviert und brillant, moralisch kompromisslos und verteidigte vehement die katholischen Ideale seiner Zeit.  

Berühmt ist er vor allem dafür, dass er sich – auch im Gegensatz zu den Positionen des Papstes – mit dem Prozess gegen die Juden wegen der Ermordung des kleinen Simon von Trient befasst hat, eine Episode, die für die Ängste und Gegensätze der Zeit symbolisch ist und den Bürgern von Trient lange in Erinnerung geblieben ist. 
Er fürchtete sich sehr vor den Türken an den Grenzen Europas, die er als Gefahr für das Christentum ansah.  
Ein Beispiel für diese Ideen findet sich in der Burg, seltsamerweise auf einem Kronleuchter aus Hirschgeweih dargestellt, wo eine weibliche Figur triumphierend über einen Türken herrscht, der im Kampf zu unterliegen scheint, und mit einer Putte, einem Löwen, stark symbolische und, um ehrlich zu sein, auch etwas verstörende Figuren. 

Burg Stenico und der Hungerturm

Die Räume, die an Bischof Bernhard von Cles (1485-1539) erinnern, sind vielleicht "alltäglicher", von der Küche über das Zimmer des Bischofs bis hin zum Blumenzimmer.   
Trotz des sanfteren Aussehens dieses Teils der Burg, die sich Bernhard von Cles auch für andere Trentiner Herrschaftssitze – vor allem Schloss Buonconsiglio – gewünscht hatte, ist der Bischof nicht als ein besonders milder Herrscher in Erinnerung geblieben. 

Ehrgeiziger noch als Hinderbach, Berater des Erzherzogs Ferdinand von Habsburg, versiert in den politischen Mechanismen des Deutschen Reiches, ein Freund italienischer Größen der Renaissance wie Pietro Bembo, der Medici und der Gonzagas, aber auch ein Freund des Erasmus von Rotterdam. Bernhard von Cles schaffte es beinahe auf den päpstlichen Thron. Er hatte in Verona und Bologna Jura studiert und war ein Mann zwischen zwei Welten und zwei Kulturen, der gegen das Luthertum kämpfte und das große Konzil von Trient vorbereitete. Er war ein Mann der Tat, vielleicht sogar zu hart, vor allem bei der Niederschlagung der Bauernkriege, bei der er die Anführer des Aufstands von 1525 besiegte und hart bestrafte.  
Ein Mann der Macht, ohne Zweifel. 

Burg Stenico und der Hungerturm

Burg Stenico und der Rio Bianco

Die Burg ist zwar imposant und reich an Geschichte, Mobiliar, Gemälden und Fresken, aber man spürt auch die Distanz zwischen der herrschenden Kaste und den Menschen, die sie unterstützten.  

Die Mauern einer gewaltigen, majestätischen und ehrgeizigen Burg, in der sich Bernhard von Cles neben niemand Geringerem als Kaiser Karl dem Großen verewigen ließ und so einen gedanklichen Höhenflug durch die Jahrhunderte, das Wappen und die Geschichte unternahm. 

Aber wenn man aus den Fenstern der Burg blickt, ist die Landschaft friedlich und der Wasserfall des Rio Bianco plätschert ungerührt und spritzig durch das grüne Laub. Man sieht ihn, wenn man näher kommt. Man hört ihn rauschen, tosen und größer werden, um uns beizubringen, dass sich das Leben trotz allem, trotz Hunger, Ruhm und Geschichte, immer wieder in Erinnerung ruft. 

Burg Stenico

Burg Stenico

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Veröffentlicht am 18/09/2024